Trotz Lahmheit zurück ins aktive Leben

Der multimodale Ansatz macht‘s

Unklaren Lahmheiten auf die Spur zu kommen gleicht nicht selten der Arbeit eines Detektivs. Ultraschall, Röntgen & Co. sind hervorragende Tools, doch sehr häufig reichen sie nicht aus, denn nicht immer führt ein Bildbefund zur richtigen Lösung. Dr. Wolfgang Mayrhofer von der Tierärztlichen Praxis für Pferdeorthopädie im hessischen Neu-Isenburg rät zu einem multimodalen Ansatz, um Lahmheiten wirklich in den Griff zu bekommen.

„Schon bei der Diagnostik lohnt es sich, das Pferd immer als Ganzes zu sehen“, so Dr. Mayrhofer. „Bildgebende Verfahren sind ebenso unbezahlbar wie diagnostische Anästhesie, wenn wir der Ursache einer Lahmheit auf den Grund gehen wollen. Doch ebenso wichtig sind das klinische Bild, die Erhebung von Befunden mittels Palpation und eine sorgfältige Anamnese. Ein unpassender Beschlag, ein schlecht sitzender Sattel oder reiterliche Fehler können nämlich genauso dazu beitragen.“ Dr. Mayrhofer erläutert seinen Ansatz anhand von drei Beispielen. Den Anfang macht das Fesselringbandsyndrom.

Fesselringbandsyndrom: nicht unbedingt das Ende der Sportkarriere
„Wie der Begriff schon sagt, handelt es sich bei dieser Erkrankung um ein Syndrom, eine Summe von Symptomen, die verschiedene Ursprünge haben können. Vielfach liest man, dass entweder das Fesselringband von Haus aus zu eng ist oder die Sehnenscheiden so stark gefüllt sind, dass sie vom Ringband eingeengt werden. Aber: Das Ringband ist niemals wirklich zu eng! Es handelt sich
immer um ein Zeichen einer Überlastung im Bereich des Fesselkopfs, welche zu einer Entzündung der tiefen Beugesehne, der Sehnenscheiden oder in selteneren Fällen des Ringbands selbst führt. Da im Bereich des Ringbands wenig Raum für Schwellung ist, kann sich die vermehrte Füllung der Sehnenscheide äußerlich in Form einer Sanduhr-Form bemerkbar machen. Im Ultraschall ist oft gar kein wesentlicher, besonderer Befund zu entdecken. Trotzdem kommt es in vielen Fällen zu einer chronischen Entzündung der Sehnenscheide und damit zu einer chronischen Lahmheit.“
Zunächst muss abgeklärt werden, welche Strukturen tatsächlich betroffen sind. „Oft lassen sich diese schon durch die klinisch-orthopädische Untersuchung und die Beugeproben identifizieren“, so Dr. Mayrhofer. „Eine Ultraschalluntersuchung sollte aber auf jeden Fall erfolgen. Eventuell sind auch Röntgenaufnahmen notwendig, um auszuschließen, dass am Fesselgelenk und den Gleichbeinen knöcherne Veränderungen vorliegen. Diagnostische Anästhesien helfen insbesondere, das Fesselgelenk vom Krankheitsgeschehen aus- bzw. einzuschließen.“
Steht die Diagnose, macht es laut Dr. Mayrhofer Sinn, entzündungshemmende Medikamente systemisch über einen begrenzten Zeitraum zu geben und in hartnäckigeren Fällen auch Kortison direkt in die Sehnenscheide zu injizieren. Unter Umständen helfen auch schon das bloße Punktieren der Sehnenscheide und ein Druckverband. Eine weniger invasive, aber durchaus potente Therapiemethode ist das Ansetzen von Blutegeln. Die weiteren Behandlungsschritte ergeben sich dann aus dem Verlauf. Gegebenenfalls ist als Ultima Ratio eine Durchtrennung des Fesselringbands erforderlich, was aber die Stabilität des Fesselkopfes negativ beeinflussen kann.
Um eine langfristige Heilung oder Beschwerdefreiheit zu erzielen, sollten aber das gesamte Pferd und seine Haltung unter die Lupe genommen werden. „Man sollte sich in jedem Fall die Hufstellung und den Beschlag genauer anschauen. Weiche Fesseln sind anfälliger für das Ringbandsyndrom. Dem kann man mit einem geeigneten Beschlag gut entgegenwirken, bei dem man die Schenkel des Eisens etwas nach hinten zieht. Das geht allerdings nur an den Hinterbeinen. Gar nicht so selten findet man auch eine Beckenasymmetrie. Wenn diese nicht korrigiert wird, wird es immer wieder zu einseitigen Überlastungserscheinungen kommen.“ Grundsätzlich sollte auch das Training des Pferdes überprüft werden, um hier Überlastungen zu vermeiden. „Bis die Entzündung der Sehnenscheide komplett auskuriert ist, dauert es seine Zeit. Währenddessen ist Bewegung auch nur sehr eingeschränkt möglich, am besten in Form von Schritt führen. Danach muss die Belastung angepasst werden. Wenn all das passt, sollte einem weiteren Einsatz des Pferdes im Sport nichts im Wege stehen.“

Hufrollensyndrom: Reitweise überdenken!
Auch beim Hufrollensyndrom können unterschiedliche Strukturen beteiligt sein: Strahlbein, Schleimbeutel, Bänder und tiefe Beugesehne. „In sehr vielen Fällen ist es der Schleimbeutel, der Ärger bereitet“, so Dr. Mayrhofer. „Eine Entzündung ist sehr schmerzhaft und ein Pferd hat keine Möglichkeit, den Huf dauerhaft zu entlasten. In jedem Fall sollte man versuchen, das Problem durch entsprechende Untersuchungen möglichst einzugrenzen. Leider lässt sich beispielsweise der Ansatz der tiefen Beugesehne nur teilweise im Ultraschall darstellen, so dass ein MRT notwendig werden kann.
Therapeutisch wird man zunächst der Entzündung und den Schmerzen durch entsprechende Medikamente entgegenwirken. Nicht zu unterschätzen ist der Faktor Hufbearbeitung bzw. Beschlag, denn die Hufstellung spielt eine große Rolle. Nicht selten sind beim Hufrollensyndrom Trachtenzwang und schmale, enge Hufe zu finden. Oft ist es gar nicht schlecht, betroffene Pferde erst einmal eine Weile barfuß laufen zu lassen. Geht das nicht, sollte ein orthopädischer Beschlag erfolgen, zum Beispiel mit einem geschlossenen Eisen, mit oder ohne Sohle, das auch vorne offen sein kann. Man muss sich aber im klaren sein, dass ein solcher Beschlag den Hufmechanismus einschränkt und andere Bereiche stärker belastet, wie zum Beispiel den Fesselträger und die oberflächliche Beugesehne.“
Die Patienten werden anfangs nur im Schritt bewegt. Enge Wendungen sind über die Dauer von drei Wochen zu vermeiden. Anschließend wird das Pferd erneut dem Tierarzt vorgestellt, der je nach Verlauf weitere Diagnostik veranlassen wird. Unterstützend kann eine Stoßwellentherapie helfen und auch die Akupunktur hat sich als wirksames Mittel gegen Entzündung und Schmerzen erwiesen. „Ganz wichtig für die Prognose ist, dass der Reiter die Behandlung mitträgt“, betont Dr. Mayrhofer. „Ein guter Chiropraktiker oder Osteopath kann schon einiges tun, damit dass Pferd wieder seine Hinterhand mehr einsetzt. Aber vor allem muss beim Hufrollensyndrom (und übrigens auch bei Spat) die Reitweise überdacht werden. Ganz häufig sind es schlecht trainierte Pferde, die Probleme mit der Hufrolle bekommen. Und auch die Passform des Sattels sollte überprüft wird. Der Behandler sollte sich immer die Frage stellen, warum ausgerechnet ein spezifischer Teil des Körpers in Mitleidenschaft gezogen ist und alle potentiellen Ursachen abchecken.“

Fesselträgerprobleme: Resultat vieler Faktoren
Der Fesselträger leidet laut Dr. Mayrhofer am allermeisten, wenn mit der Biomechanik des Körpers etwas nicht stimmt. Bei Dressurpferden beispielsweise ist ein Fesselträgerschaden geradezu eine Horrordiagnose. Insbesondere am Fesselträgerursprung, aber auch an den Fesselträgerschenkeln handelt es sich in der Regel um wiederholte Verletzungen durch Überlastung, sogenannte Mikrotraumen, so dass der Schaden bereits chronisch geworden sein kann, wenn er klinisch erstmalig in Erscheinung tritt. „Sehnen sind nicht wie Muskeln“, so Dr. Mayrhofer. „Sie sind nicht so stark und nicht so gut durchblutet. Für einen Sehnenschaden kommen meist mehrere Faktoren zusammen: Stellungsfehler, zu wenig Bewegung, punktuelle Überlastung durch Training und – ganz wichtig – schlechter Boden. Es gibt einige vielversprechende Therapien wie die Stammzellentherapie, PRP, Lasertherapie oder extrakorporale Stoßwellentherapie. Doch das Problem muss in jedem Fall ganzheitlich angegangen werden. Hier sollten Tierarzt, Schmied, Chiropraktiker bzw. Osteopath und Sattler eng zusammenarbeiten. Die Reitweise sollte ebenso wie die Haltung überprüft werden. Pferde, und damit meine ich auch Spitzenturnierpferde, sollten so viel Auslauf und Weidegang wie nur irgend möglich erhalten. Das bedeutet eine bessere Grundkondition und besser ‚geölte‘, geschmeidige Sehnen. Und auch das Thema Gamaschen/Bandagen sollte man sich gründlich überlegen: Die darunter entstehende Wärme ist schlecht für die Sehne, wie Studien gezeigt haben. Also: Gamaschen oder Bandagen kurzfristig nur anlegen, wenn die Beine vor äußeren Verletzungen durch Manöver (z. B. Turnaround in der Reining) oder beim Springen geschützt werden sollen, niemals nur, weil es so schön aussieht! Und Bandagen über Nacht sind reines Gift.“

Text: Ramona Billing, fachliche Beratung: Dr. Wolfgang Mayrhofer, Fotos: Angelika Schmelzer und Ramona Billing