Nur ein kleiner Piks…

Fit für den Tierarzt

Hand aufs Herz: Wie gut hält Ihr Pferd bei einer Impfung oder der Blutabnahme still? Nimmt es nur unwillig etwas den Kopf zur Seite oder muss man es mit einer Nasenbremse ruhigstellen und mit drei Personen in eine Ecke quetschen, um die Nadel in ihrem Zielbereich versenken zu können? Probleme im Zusammenhang mit Spritzen gehören zu den häufigeren Phänomenen, mit denen Tierärzte in ihrem Alltag konfrontiert werden. Der Einfallsreichtum an Zwangsmaßnahmen ist daher groß, denn es geht u. a. um die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit von Pferdebesitzer, Veterinär und dem Pferd selbst. Lösungsansätze reichen daher von der oralen Sedierung bis zum Einsatz der Nasenbremse oder dem Verwenden eines Blasrohrs. Dabei lässt sich mit dem richtigen Training auch der ‚Piks‘ ganz leicht bewältigen. Die Pferdephysiotherapeutin Nina Steigerwald zeigt, wie es geht.

Laut einer Studie in England sind 81 Prozent von 168 befragten Tierärzten in den letzten fünf Jahren mindestens einmal verletzt worden. Die Befragten erlitten in dieser Zeit 579 Verletzungen, die in 15 Prozent der Fälle im Krankenhaus vorgestellt werden mussten. Sicherlich sind das alles nicht nur Verletzungen, die im Zusammenhang mit Injektionen stehen. Aber es sollte uns als Pferdebesitzer aufhorchen und unserer Verantwortung gemäß handeln lassen. Die gute Nachricht ist nämlich: Verhalten ist veränderbar!
Und wir selbst haben es in der Hand, diese Veränderung herbeizuführen. Mit dem entsprechenden Training ist es möglich, vehemente Gegenwehr in entspanntes Kooperieren umzuwandeln. Hier kommt das gesamte Feld des Medical Trainings, eines Bereichs des früher zu Unrecht auf Tricks reduzierten und belächelten Clickertrainings, zum Einsatz. Wenn es möglich ist, einem Orca oder einem Tiger beizubringen, sich zwanglos, allein durch den Einsatz der Positiven Verstärkung, eine Nadel setzen zu lassen, sollten wir uns auch bei unseren Pferden, zu denen wir ein freundschaftliches Verhältnis pflegen möchten, die Erkenntnisse und Techniken der Lerntheorie zunutze machen.
Eine handfeste Spritzen-Aversion entwickelt sich oft aus ersten Erfahrungen mit dem Ereignis „Spritze“ als Fohlen oder Jungpferd. Mit spätestens sechs Monaten bekommt es den Chip und die ersten Impfungen stehen an. In diesem Alter gehören ruhiges Stillstehen und das Zulassen von Handling am Körper in der Regel noch nicht zum erlernten Repertoire. Das kleine Wesen wird also „umarmt“ und gegen Mutti gedrückt, dann perforiert etwas die Haut und es tut weh. Machen Sie sich klar, dass beim Spritzen immer eine Gewebszerstörung mit daran gekoppeltem Schmerzreiz stattfindet. Dieser Schmerz hat eine wichtige physiologische Warnfunktion und veranlasst jedes gesunde Individuum, sich dem schmerzauslösenden Stimulus zu entziehen bzw. ihn vermeiden zu wollen. Zudem wird die Summe der Erfahrungen aus Schmerzen, Ausweichversuchen und physiologisch messbarem Stress in Körperzellen und Gehirn ab-gespeichert, was dazu führt, dass sich das Pferd in der nächsten ähnlichen Situation daran erinnert und den Piks vermeiden wollen wird. Wäre es nicht so, wäre mit dem Tier etwas nicht in Ordnung. Schließlich ist das Anpassen von Verhalten an individuelle Erfahrungen überlebensnotwendig – und wird Lernen genannt.
Erwachsene Menschen können sich, sofern keine Phobie vorliegt, meist selbst dazu aufrufen, dem Arzt zu vertrauen und den Blick auf den Nutzen anstatt das Unangenehme einer Prozedur zu richten. Das funktioniert aber leider weder bei Kleinkindern noch bei Tieren. Die Ermahnung „Es ist ja nur zu deinem Besten!“ wird keinerlei Einfluss auf die Kooperation haben. Erst recht nicht, wenn bereits schlechte Erfahrungen gemacht wurden.
Hierbei fallen zwei Komponenten ins Gewicht: Die eine ist der bereits angesprochene Schmerz und Stress, den das Pferd verspürt hat. Das Spritzen in eine vor Aufregung und Abwehr hart verspannte Muskulatur ist vor allem noch schmerzhafter als in einen lockeren Muskel. Die zweite ist für die Behandlung und das Training eines Problemverhaltens beim Spritzen noch gravierender und erklärt auch, warum sich dies im Laufe der Jahre potenzieren kann: Wieviel Erfolg hatte das Pferd bei der Vermeidung der Situation? Im ungünstigsten Fall wurde z. B. der Versuch einer Blutabnahme abgebrochen, weil es zu gefährlich für alle wurde. Was speichert das Tier also als Lernerfahrung ab? Es lohnt, sich mit Zähnen und Hufen zu wehren. Was wird es also beim nächsten Mal tun? Sich wieder wehren! Und sollte das nicht helfen, wird es sich noch stärker wehren. Das hat nichts mit Böswilligkeit oder gar Dominanz zu tun, es sind ganz normale Lernprozesse.
Wir müssen uns immer darüber im Klaren sein, dass es nur zwei Motivationskanäle für Handlungen gibt: Das Erreichen von etwas Angenehmen und das Vermeiden von etwas Unangenehmen. Ein Lebewesen verhält sich stets so, dass es entweder eine erwünsche, positive Konsequenz aus seinen Handlungen erfährt oder dass es als unmittelbare Folge seines Verhaltens Erleichterung verspürt. Letzteres ist der Fall, wenn das Pferd sich, wie oben beschrieben, erfolgreich gegen die Spritze wehrt.
Man spricht in der Lerntheorie von den „vier Quadranten“. Es herrscht manchmal eine gewisse Verwirrung der Begrifflichkeiten, daher möchte ich sie hier noch einmal ausführen. Eine positive Verstärkung liegt vor, wenn die hinzugefügte Konsequenz nach dem Verhalten etwas ist, was das Pferd von sich aus in dem Moment gerne haben möchte. Das trifft vor allem auf Futter zu, da es dem Überleben des Organismus dient. Positiv ist unbedingt mathematisch, im Sinne von „hinzufügend“, und nicht wertend als „gut“ zu verstehen! Verstärkung bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten dieses Verhaltens höher wird, es also verstärkt wird. Bei der negativen Verstärkung wird als Konsequenz etwas vom Tier entfernt, was es gerne vermeiden möchte. Bei uns Menschen ist es z. B. das nervige Piepen des Autos, wenn man beim Ziehen des Zündschlüssels noch das Licht angelassen hat. Nach der Tat des Lichtschalter-Bedienens folgt das Gefühl der Erleichterung, weil das unangenehme Geräusch aufhört: Das Löschen des Lichtes wurde negativ verstärkt. Negativ ist also nicht als „schlecht“, sondern als „wegnehmend“ zu verstehen. Wird ein Verhalten positiv oder negativ verstärkt, steht der Wunsch dahinter, dieses Ver-halten mehr werden zu lassen.
Manchmal soll ein Verhalten auch weniger bzw. gar nicht gezeigt werden. Um dies zu erreichen, kommen Strafen zum Einsatz, die man ebenfalls in positiv und negativ unterteilt. Im ersten Fall wird etwas Unangenehmes hinzugefügt, z. B. der Schlag mit der Gerte nach einem Bocksprung. Bei der negativen Strafe wird etwas Angenehmes entfernt, z. B. hört man auf, das Pferd zu kraulen, wenn es beim Zurückkraulen seine Zähne benutzt. Der große Nachteil von Strafen liegt darin, dass das Pferd dann immer noch nicht weiß, was es stattdessen tun soll. Zudem kann eine sogenannte Fehlverknüpfung dazu führen, dass etwas anderes als seine Handlung mit der Strafe verknüpft wird.
Wenden wir uns mit diesem lerntheoretischen Wissen der Spritzenthematik zu, sehen wir sehr schnell, dass die schönste und pferdefreundlichste Lösung in der positiven Verstärkung zu finden ist. Nun könnten Sie Ihrem Pferd ein Kilo Hafer für kooperatives Verhalten bei der Spritze versprechen oder es auf ein saftiges Stück Wiese lassen, nachdem der Tierarzt den Hof verlassen hat. Es wäre toll, wenn es so einfach wäre! Doch leider steht uns dabei die mangelnde Fähigkeit des Pferdegehirns zum Überbrücken von Zeitfenstern, die größer als ein bis drei Sekunden sind, im Wege. Verstärker müssen unmittelbar erfolgen, um wirken zu können. Der Schlüssel zur Verständigung mit Ihrem Pferd liegt daher im sogenannten sekundären Verstärker. Dieser erhält seine Wirkung durch…

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Text und Foto: Nina Steigerwald