Geraderichten

Der Weg zum glücklichen und gesunden Pferd?

Ganz unbewusst setzen wir Menschen Symmetrie und Geradlinigkeit (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) mit etwas Positivem in Verbindung und beurteilen eher negativ, wenn etwas „schief läuft“, Dinge nicht „gerade heraus“ gesagt werden, wenn „krumme Dinger“
gedreht, „vom geraden Weg“ abgewichen wird. Diese Zweiteilung hat sich tief in unser Gehirn geprägt. Auch in der Ausbildung unseres Pferdes, ob am Boden oder unter dem Reiter, regeln Begriffe wie „natürliche Schiefe“ und das wichtige „Geraderichten“ oft ganz entscheidend unser Tun: Das gerade gerichtete Pferd ist ein wichtiges Ziel des Trainings, das (noch) schiefe dagegen stellt dem Pferdefreund kein allzu gutes Zeugnis aus.

Heute spielt der Begriff der Schiefe eine zunehmend größere Rolle: Zum einen hat sich gezeigt, dass es neben der natürlichen Schiefe weitere Aspekte der Asymmetrie bei unseren Pferden gibt, die von großer Bedeutung für Pferdefreunde sind, zum anderen wird man zunehmend aufmerksamer bezüglich nicht oder nicht ausreichend korrigierter natürlicher Schiefe und deren Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden. Während die Korrektur der natürlichen Schiefe nichts von ihrer Bedeutung verloren hat, stellt man sie heute in den größeren Kontext und ist sich bewusst, dass „schief“ nicht automatisch „schlecht“ bedeutet und Symmetrie nicht immer ein erstrebenswertes Ziel ist: Die Natur hat noch einiges mehr an Lateralität in unsere Pferde verbaut, und hat sich dabei etwas gedacht.

Wohin man auch schaut: Alles schief!
Sieht man sich die Anatomie eines Pferdes an, erscheint es von außen betrachtet ein bilateral perfekt symmetrisch gebautes Tier zu sein, denn rechte und linke Körperseite wirken spiegelsymmetrisch identisch, mit einer gedachten Linie entlang der Wirbelsäule als Achse. Erkennbar sind Körperelemente folgerichtig doppelt vorhanden – einmal rechts, einmal links, wie etwa die Ohren oder die Gliedmaßen – oder ein nur einmal angelegter Bereich wird durch eine Achse in zwei spiegelbildliche Hälften getrennt, wie beispielsweise die Maulhöhle.
Schaut man aber ins Pferd hinein, relativiert sich dieser Eindruck. Zwar sind auch die großen Körperhöhlen einfach angelegt, aber rechts und links einer gedachten Mittellinie identisch, das gilt jedoch nicht für alle darin untergebrachten Organe. Manche Organe gibt es tatsächlich doppelt (etwa die Nieren), andere sind einfach, aber mit zwei identischen Hälften rechts und links der Achse angelegt (beispielsweise die Luftröhre), doch finden sich auch Organe, die kaum Symmetrien aufweisen oder nicht durch die Längsachse in zwei identische Hälften getrennt werden, wie das Herz oder die Leber. Anatomisch symmetrisch angelegt sind unsere Pferde deshalb nur bedingt.
Als Pferdefreunde interessieren uns vor allem das knöcherne Skelett und die Muskulatur des Trageapparats und deren Funktionen. Ist unser Reit- oder Fahrpferd links so stark, so belastbar und so geschmeidig wie rechts? Meistens ist es das nicht und bei genauem Hinsehen und Erfühlen lässt sich dies leicht feststellen. Oft reicht es, einfach im Schritt eine Volte nach links und eine nach rechts zu reiten und man stellt fest: Auf einer Hand klappt das ganz gut, doch auf der anderen Hand gibt es Probleme mit der Linienführung, dem Takt, der Haltung oder dem Tempo. Auch auf der geraden Linie mitten im Raum reitend sind Asymmetrien festzustellen, die sich in unterschiedlich gutem Herantreten an den Zügel, nicht gleichmäßig flüssigem Stellen, verschieden gelungenem Angaloppieren auf beiden Händen und anderen Unterschieden zwischen rechts und links äußern können.
Offensichtlich arbeitet der Trageapparat vieler Pferde nicht gleich gut rechts wie links – eine Schiefe, eine Lateralität, die es sogar in zwei „Geschmacksrichtungen“ gibt: einmal als natür-liche, als angelegte Schiefe, und dazu oft als erworbene, meist angerittene Schiefe. Was hat es damit auf sich?

Die natürliche Schiefe
Der Begriff der natürlichen Schiefe ist jedem Pferdefreund geläufig. Man versteht darunter eine angeborene Abweichung der Körperlängsachse des Pferdes von der Geraden, die individuell allerdings sehr unterschiedlich ausfällt. Als mögliche Ursachen kommen verschiedene Einflüsse in Frage, die schon vor der Geburt auf das Fohlen einwirken – genaues weiß man bis heute nicht. Es lässt sich feststellen: Eine Körperseite erscheint etwas konvex, die andere ein wenig konkav, eine lässt sich gut, die andere nicht so gut dehnen und es hat so den Anschein, als seien die beiden Körperhälften nicht von gleicher Länge – die hohle Seite erscheint darum ein wenig zusammengezogen.
Diese Schiefe hat direkte Auswirkungen auf die „Nutzung“ des Pferdes, auf so elementare Aspekte wie Gleichgewicht, Stabilität in der Bewegung und Effektivität der Muskelarbeit. Zwar ist diese angeborene Krümmung der Längsachse für Pferde generell typisch, es finden sich aber ausgeprägte individuelle Unterschiede darin, wie und wo genau die Wirbelsäule gekrümmt ist und auf welche Art und in welche Richtung die Pferde unter dem Reiter ausweichen.

Schiefenkorrektur – warum?
Die natürliche Schiefe ist für Pferdefreunde vor allem im Zusammenhang mit dem Training relevant, ihre Auswirkungen aber lassen sich auch im Alltag der Pferde beobachten. Selbst ein frei auf der Weide geradeaus galoppierendes Pferd wird nicht spurtreu laufen, also nicht rechtes Vorder- und Hinterbein bzw. linkes Vorder- und Hinterbein auf einer Linie aufsetzen. Betrachtet man es direkt von vorne wird man sehen, dass es ein wenig schief geht, dass die Hinterhand in Bezug auf die Vorhand leicht nach einer Seite verschoben erscheint. Das rechte Hinterbein etwa wird bei den meisten Pferden seitwärts so ausweichen, dass es neben der Spur des gleichseitigen
Vorderbeins fußt.

Oft wird in der freien Bewegung auch ein Handgalopp
häufiger gezeigt, mit einem bestimmten Bein zuerst angetreten, beim Grasen ein Vorderbein öfter oder länger vorgestellt als das andere. Die Korrektur dieser natürlichen Schiefe unter dem Sattel ist auch Inhalt der bekannten Anweisung des Reitmeisters Gustav Steinbrecht an alle Pferdefreunde: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade!“. Und auch heute fordert die Reitlehre: Damit ein Pferd im Einsatz leistungsfähig und gesund bleibt, muss dieser Anweisung zur Korrektur der natürlichen Schiefe beständig nachgekommen werden.
Heute bringen Experten nicht nur fehlende Ausbildungsfortschritte und Mängel in der Durchlässigkeit, sondern auch medizinisch relevante Probleme wie dauerhafte Verspannungen und Entzündungen, Kissing Spines, diverse Lahmheiten, Headshaking, Podotrochlose und andere in einen Zusammenhang mit einer nicht (ausreichend oder dauerhaft) korrigierten natürlichen Schiefe.
Für den Einsatz als Reit- und Fahrpferd soll dieser Schiefe deshalb durch entsprechende gymnastizierende Arbeit so entgegengewirkt werden, dass jedes Pferd auf gerader ebenso wie auf gebogener Linie hufschlagdeckend geht. Warum? Ohne eine solche Korrektur ginge ein Teil des von hinten kommenden Bewegungsimpulses beständig quasi am Körper vorbei nach vorne, wäre also nicht unter den Schwerpunkt gerichtet, während ebenso die reiterliche Einwirkung teilweise verpufft. Zudem wirkt sich diese Asymmetrie belastend auf den Pferde-körper aus und hat zur Folge, dass es sich muskulär einseitig entwickelt, die Beine ungleich stark beansprucht werden und sich so Überlastungen mit vielen, auch gravierenden Folgen einstellen. Hinzu kommt: Es kann sich diese Einseitigkeit unbemerkt auch auf den Reiter auswirken und diesen „falsch hinsetzen“, was die Problematik verschärft. Es kommt dann zur Entwicklung einer angerittenen oder erworbenen Schiefe, die sich ebenfalls auf der körperlichen Ebene manifestiert.

Schiefe Ebenen
Doch neue Erkenntnisse lassen aufhorchen und legen nah, die natürliche Schiefe unserer Pferde neu zu bewerten. Es hat sich nämlich gezeigt, dass unsere Pferde nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch auf weiteren Ebenen schief im Sinne von nicht perfekt symmetrisch sind, und dass es für diese Lateralität gute Gründe gibt. Zudem steht die angeborene Schiefe nicht alleine, sondern wird von diesen weiteren Formen der Lateralität beeinflusst, was jedes Tun des Reiters in seiner Wirksamkeit möglicherweise beschränkt, aber auch Folgen für andere Bereiche hat, die bedacht werden sollten. Nicht alles, was am und im Pferd im weitesten Sinne schief ist, kann oder sollte der Mensch also geraderücken.

Wissenschaftler unterscheiden heute verschiedene Aspekte der Schiefe oder Lateralität unserer Pferde:

• Morphologisch – wie symmetrisch ist der Körper gebaut?
• Zentral oder zerebral – wie ausgewogen gleichseitig wird der Organismus gesteuert?
• Sensorisch – wie symmetrisch arbeiten die Sinnesorgane, wie gleichmäßig rechts und links wird die Wahrnehmung eingesetzt?
• Motorisch – wie beidseitig ausgewogen agiert der Körper?
Diese Aspekte sind zwar einzeln zu betrachten, doch auch miteinander verknüpft und voneinander abhängig: Ein nicht symmetrisch gebauter oder nicht gleichmäßig gesteuerter Körper etwa wird rechts und links nicht gleich agieren. Die Verknüpfung der verschiedenen Erscheinungsformen von Lateralität ist so eng, dass eine getrennte Erklärung der Ebenen nie das große Ganze erfassen kann.

Schief geboren, schief gemacht?
In ihren Auswirkungen ganz ähnlich der natürlichen Schiefe, aber eben nicht von Geburt an angelegt, sondern vielmehr erworben sind die bereits erwähnten erworbenen oder angerittenen Schiefen. Sie führen dazu, dass unsere Pferde dauerhaft, also auch bei weiterer Ausbildung, einseitig steif agieren, links und rechts nicht in gleichem Maße dehnungsfähig sind – und bleiben.
Als Ursache(n) für bleibende Schiefe in Frage kommen
unter anderem

• eine nicht oder nicht nachhaltig korrigierte natürliche Schiefe,
• Trainingsfehler unter dem Sattel wie an der Longe,
• gesundheitliche Störungen,
• ungünstige Haltungs- und Fütterungsbedingungen,
• traditionell einseitig orientiertes Handling ebenso wie
• schief sitzende und einseitig einwirkende Reiter in Frage.

Manchmal gelingt es nicht, die natürliche Schiefe nachhaltig zu korrigieren – es fehlt das Wissen um dieses Phänomen, seine Bedeutung, seine effektive und nachhaltige Korrektur. Oft aber sind es mehrere, diffuse Einflüsse, die mit der Zeit eine Einseitigkeit hervorrufen. Gut nachvollziehbar ist etwa, dass Reiter aufgrund der eigenen „Händigkeit“ eine gewisse Asymmetrie in Sitz und Einwirkung mitbringen und ihre Pferde mit der Zeit „schief reiten“. Ursachen können auch körper-liche, vielleicht gesundheitliche Probleme des Reiters sein, die sich negativ auf die eigene Symmetrie auswirken (Schonhaltung, Verspannung, stark einseitig ausgebildete Muskulatur), auf das Pferd übertragen und dessen Einseitigkeit verstärken. Auch bestimmte Gepflogenheiten bringen es unweigerlich mit sich, dass wir unsere Pferde im Alltag unabsichtlich in der Längsachse bevorzugt in eine Richtung krümmen und nach und nach damit eine gewisse Einseitigkeit etwa in der Dehnungsfähigkeit der Muskulatur hervorrufen. So führen wir beispielsweise Pferde bevorzugt an unserer rechten Seite und wirken dabei mit jeder Einwirkung automatisch stets nach links krümmend ein. Wir sitzen links auf (womöglich ohne Aufsitzhilfe) und ab, reiten oft nicht gleichmäßig auf beiden Händen, sondern bevorzugen unbewusst die Hand, die uns selbst angenehmer ist. Ist dann der Sattel schief eingesessen, der linke Steigbügel durch die häufigere Lastaufnahme länger, dann sitzen wir automatisch auch nicht mehr symmetrisch im Sattel und das Problem nimmt so richtig Fahrt auf.
Unerkannte gesundheitliche Störungen beim Pferd können ebenfalls bewirken, dass es sich in Richtung einer zunehmenden Asymmetrie entwickelt, etwa aufgrund leichter Verspannungen oder einer gewissen Bewegungseinschränkung. Auch die Haltung kann dazu beitragen, dass unsere Pferde sich einseitig entwickeln – etwa, indem das Raufutter auf eine Weise vorgelegt wird, die beim Pferd eine dauerhaft in eine Richtung gekrümmte Haltung beim Fressen auslöst. All dies und mehr kann dazu beitragen, dass unsere Pferde schief werden. Manchmal lässt sich am Ende nicht mehr feststellen, was Henne und was Ei, was Ursache und was Wirkung ist: Hat ein steifes, gekrümmt gehendes Pferd beim Reiter zu Verspannungen und Schiefe geführt oder war es umgekehrt, hat ein Pferd eine Lahmheit entwickelt, weil es schief geht oder geht es schief aufgrund einer bereits vorhandenen, unerkannten Störung im Bewegungsapparat?

Schiefe Steuerung
Nicht nur die inneren Organe, nicht alleine die Elemente des Bewegungsapparats zeigen bei näherem Hinsehen Lateralität. Das zentrale Steuerungsorgan unserer Pferde, das Gehirn, ist wie unser menschliches grundsätzlich bilateral-symmetrisch angelegt. Verarbeitung und Steuerung erfolgen überkreuz: Die linke Gehirnhälfte ist vorwiegend für die rechte Körperseite inklusive rechts angeordneter Sinnesorgane verantwortlich und umgekehrt. So weit, so symmetrisch. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber: Rechte und linke Gehirnhälfte unterscheiden sich doch anatomisch leicht voneinander, zudem gibt es auf der Funktionsebene eine ausgeprägte Aufgabentrennung – die beiden Hirnhemisphären haben unterschiedliche Zuständigkeiten. So weiß man beispielsweise, dass beim Menschen vor allem die linke Hemisphäre für die Sprache zuständig ist, die rechte dagegen bei Aufgaben wie der räumlichen Wahrnehmung dominiert. Auch beim Pferd lässt sich diese zerebrale Lateralität nachweisen. So sind die rechte Gehirnhälfte und damit die linke Körperhälfte aktiver immer dann, wenn das Pferd auf Situationen reagiert, wenn es Gefahren ausweicht, emotional stark gefordert ist oder seine Umgebung absichert, die linke Hemisphäre und rechte Körperhälfte vorwiegend, wenn es in Situationen selbst aktiv wird, sich intensiv auf etwas konzentriert und Neues lernt.
Die unterschiedliche Aktivität der beiden Gehirnhälften führt dazu, dass Pferde sowohl ihre ebenfalls bilateral symmetrisch angelegten Wahrnehmungsorgane als auch linke und rechte Körperhälfte situationsgebunden nicht gleichmäßig benutzen, sondern mal rechts, mal links aktiver sind. Dies wird als sensorische und als motorische Lateralität bezeichnet. Es wird vielleicht bei einer neuen Aufgabe, die es ohne Angst angeht, vorzugsweise das rechte Auge oder die rechte Körperhälfte einsetzen, beides verknüpft mit der linken Gehirnhälfte. Umgekehrt werden linkes Auge und linke Körperseite und damit die rechte Gehirnhälfte stärker genutzt in Situationen, die stark emotional aufgeladen sind, vielleicht in körperlichen Auseinandersetzungen mit Artgenossen.
Diese sich gegenseitig bedingende Lateralität auf mehreren Ebenen – der zentralen Steuerung über das Gehirn, der Sinneswahrnehmung und der motorischen Aktivität – wird übrigens auch genutzt, um die individuelle Bedeutung bestimmter Situationen für ein Pferd zu entschlüsseln. Lässt sich bei einem Pferd eine Aktivierung und Nutzung von rechter Körperhälfte und rechts angeordneten Sinnesorganen bemerken, kann gefolgert werden, dass die Situation für das Pferd aktuell nicht von Angst und Stress gekennzeichnet ist – denn jetzt arbeitet die linke Gehirnhälfte, mit der das Pferd proaktiv seine Welt erlebt. Ein Artgenosse dagegen, der in einer vergleichbaren
Situation eher mit der linken Körperhälfte und dem linken Auge agiert, steht vermutlich eher unter Stress und ist tendenziell geneigt, den Rückzug anzutreten.
Dieses individuell unterschiedliche Erleben hat auch Auswirkungen auf die Muskelentwicklung: Was vermehrt genutzt wird, wird gestärkt – so werden die Muskeln der häufiger eingesetzten Körperhälfte tendenziell kräftiger. Dieser Trainingseffekt kann eine angelegte Lateralität natürlich verstärken.
Wie es scheint, werden Pferde also vor allem dann zunehmend „schief“ im Sinne einer einseitigen Bevorzugung einer– meist der linken – Körperhälfte, wenn sie Stress erfahren, wenn ihre Trainings- und Haltungsbedingungen sie unter Druck setzen. Wer viel mit der rechten Gehirnhälfte und folglich der linken Körperseite arbeitet, wird häufiger Situationen als bedrohlich oder emotional aufgeladen erleben. Wenn Pferde dauerhaft schief sind und sich diese Lateralität der Korrektur durch probate Mittel des Trainings an der Longe oder unter dem Sattel entzieht, könnten folglich ungünstige Lebensbedingungen die Ursache und eine Optimierung der Unterbringung der Schlüssel zur Lösung sein.

Schief ist nicht immer schlecht
Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass es nicht eine, sondern mehrere Schiefen gibt und diese teilweise im Zusammenhang mit der Anpassung des Pferdes an unterschiedliche Lebensumstände zusammenhängen, wird man das Phänomen der Schiefe und seiner Korrektur aus Reitersicht vielleicht neu bewerten müssen. Es zeichnet sich ein Gesamtbild ab, das die Berücksichtigung mehrerer Komponenten des Komplexes „Schiefe“ verlangt. Sicher sind alle Reiter und Fahrer aufgefordert, der angeborenen Schiefe ihrer Pferde im Rahmen des täglichen Trainings auf eine Weise zu begegnen, die für das Pferd und dessen Leistungsfähigkeit und Gesundheit im Einsatz förderlich ist. Und es steht auch fest, dass unser Tun nicht dazu beitragen sollte, der angeborenen Schiefe noch eine erworbene hinzuzufügen. Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass eine gewisse Lateralität auf mehreren Ebenen es mit sich bringt, dass unsere Pferde – wie auch wir selbst – nie völlig symmetrisch agieren können oder sollten. Es liegt zudem auf der Hand, dass die Lebensbedingungen unserer Pferde so geartet sein müssen, dass gesundheitlich relevante, unphysiologische Veränderungen der Symmetrie nicht auftreten. Kommt es doch dazu, ist dies als Aufforderung an den Pferdefreund zu verstehen, alle Aspekte von Training, Haltung und Fütterung kritisch unter die Lupe zu nehmen und auch die psychische Komponente nicht außer Acht zu lassen.
Symmetrie ist anscheinend nicht per se ein erstrebenswerter, Asymmetrie ein unerwünschter, gar potentiell gefährlicher Zustand. Wir finden natürliche Ungleichgewichte, Lateralitäten bei unseren Pferden – wie auch bei uns selbst – auf verschiedenen Ebenen und wir tun gut daran, diese zu respektieren. Das Wissen um diese von der Natur genau so gewollten Ungleichgewichte hilft uns auch dabei, das Phänomen der natürlichen Schiefe in Bezug auf die Nutzung unserer Pferde unterm Sattel oder im Gespann mit wachem Blick individuell zu beleuchten. Und wir sollten wissen: Lässt sich bei unseren Pferden auf der körperlichen und sensorischen Ebene eine zunehmende generelle „Linkslastigkeit“ beobachten, steht dahinter eventuell eine als vermehrt negativ erlebte Lebenswirklichkeit. Pferde werden auch schief, wenn es ihnen nicht gut geht, ganz unabhängig von ihrem Training.
Die natürliche Schiefe als angeborene Eigenschaft anzusehen und die Verknüpfung verschiedener Formen der Lateralität zu respektieren heißt nicht, der körperlichen Schiefe des Pferdes untätig zu begegnen. Mit der Zeit würde sich vor allem die Muskulatur in ihrer Ausprägung, aber auch hinsichtlich ihrer Dehnbarkeit so einseitig entwickeln, dass Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit des Pferdes bedroht sind. Es braucht ein Abwägen, denn ebenso ist es nicht von Vorteil, Ungleichgewichte auf der körperlichen Ebene quasi mit der reiterlichen Brechstange anzugehen. Zudem ist es Aufgabe des Pferdefreundes zu verhindern, dass zu einer gewissen angeborenen Lateralität weitere Faktoren kommen, die das Pferd stärker beeinflussen und regelrecht aus der Balance bringen können – der körperlichen, aber auch der psychischen.

Text und Fotos: Angelika Schmelzer